Zurücklehnen und entspannt vorwärtskommen
Das Steuern und Fahren von Handrollstühlen auf Trottoirs kostet Rollstuhlfahrer:innen viel Kraft und belastet ihre Gelenke. Zwei ETH-Mitarbeiter haben eine so geniale wie einfache L?sung gefunden, die sie nun zur Marktreife weiterentwickeln.
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In Kürze
- Um einen klassischen Rollstuhl zu lenken, wird laufend gebremst, und man braucht beide H?nde. Das ist ineffizient, braucht viel Energie und belastet die Gelenke.
- Zwei wissenschaftliche Mitarbeiter der ETH Zürich entwickelten einen Rollstuhl, der sich mit der Rückenlehne steuern l?sst.
- Damit kommen Rollstuhlfahrer:innen effizienter vorw?rts und haben weniger Gesundheitsprobleme.
Was haben ein Rollstuhl und ein Einkaufswagen gemeinsam? Bei beiden sind die kleinen Vorderr?der frei beweglich, damit das Gef?hrt m?glichst agil ist. Die frei drehbaren R?der haben aber eine Kehrseite: Ist beispielsweise ein Weg seitlich geneigt, l?sst es sich schwer geradeaus fahren. Wer einmal einen vollen Einkaufswagen einem Trottoir entlang stiess, weiss, wie mühsam das ist: Der Wagen zieht seitlich weg, und man muss dauernd mit Kraft gegensteuern.
Genau so ergeht es Menschen, die mit einem Handrollstuhl unterwegs sind: Sie müssen auf einem Trottoir laufend die Richtung korrigieren, um geradeaus fahren zu k?nnen und nicht auf der Strasse zu enden. W?hrend die eine Hand das Gef?hrt beschleunigt, muss die andere Hand bremsen und gegensteuern. Das ist nicht nur anstrengend, sondern belastet auch die Gelenke.
Rückenlehne als Steuerrad
Das muss nicht sein, dachten sich Reto Togni und Stefan Villiger, beide wissenschaftliche Mitarbeiter im Labor für Bewegungsbiomechanik der ETH Zürich. Sie entwickelten einen Rollstuhl mit einer beweglichen Rückenlehne. Diese ist direkt mit den Vorderr?dern verbunden und steuert so das ganze Gef?hrt. Das geschieht alles rein mechanisch: Lehnt sich der oder die Nutzer:in nach rechts, f?hrt der Rollstuhl nach rechts, bei einer Neigung nach links f?hrt er nach links. ?Das spart viel Energie und macht Bremsen auf Trottoirs und in Kurven unn?tig?, sagt Togni.
Mit weniger Energie schneller
Wieviel weniger Kraft das Steuern per Rückenlehne braucht, zeigen die Tests in der Tiefgarage auf dem 菲律宾sunbet下载_申慱sunbet现金网-【官方网站】 H?nggerberg, die Togni im Rahmen seiner Doktorarbeit an der ETH Zürich durchführte. Dazu fuhren 29 Proband:innen sechsmal hintereinander einen Parcours: eine Gerade mit einer seitlichen Neigung von fünf Grad, 180-Grad-Kurven und eine Slalomstrecke. Die Testpersonen fuhren zuerst mit einem herk?mmlichen Rollstuhl, dann mit dem Prototyp mit der beweglichen Rückenlehne. Bei beiden Modellen zeichneten Sensoren in den grossen Antriebsr?dern auf, wieviel Kraft die Proband:innen beim Steuern und Fahren brauchen.
?Bereits beim ersten Durchgang war klar, dass die Steuerung per Rückenlehne die Testpersonen viel weniger Kraft braucht?, sagt Togni. Mitentwickler Villiger fuhr selbst mit und best?tigt: ?In der geneigten Gerade musste ich mit dem Prototypen nicht einmal mit der Hand korrigieren. Und auch in der Kurve war das Vorw?rtskommen viel müheloser. Beim herk?mmlichen Rollstuhl war ich immer am Bremsen und gleichzeitig am Angeben.? Das zeigen auch die Auswertungen (siehe Grafik).
Obwohl die Proband:innen fürs Vorankommen mit lehnengesteuerten Rollstühlen weniger Energie aufwenden mussten, waren sie schneller unterwegs als Probanden in herk?mmlichen Rollstühlen. Dies erstaunte selbst die Forschenden: ?Normalerweise braucht man ja mehr Energie, je schneller man sich fortbewegt?, sagt Togni.
Entlastung für Gelenke
Die Steuerung per Rückenlehne reduziert nicht nur den Kraftaufwand, sondern schont auch Schultern, Arme und H?nde von Rollstuhlfahrer:innen, die über die Jahre oft Schulterprobleme entwickeln.
Es gebe, so die beiden Forschenden, aber weitere gesundheitliche Vorteile: Die sanften Rumpfbewegungen, die es zum Steuern braucht, dürften die Durchblutung anregen und k?nnten gegen Rückenschmerzen und Verdauungsbeschwerden helfen. Zudem entlastet die Gewichtsverlagerung das Ges?ss und k?nnte helfen, Druckstellen vorzubeugen.
Ein anderer Vorteil ist, dass man einh?ndig fahren kann und die zweite Hand frei hat, um Gegenst?nde von einem Ort zum anderen zu transportieren - ob Schirm, Handy oder einen Kaffee.
Die neuartige Steuerung hat aber auch einen Nachteil: Das Drehen am Ort und das Bewegen auf kleinem Raum ist nicht so einfach wie mit einem herk?mmlichen Rollstuhl. Deshalb hat der Prototyp an der Seite einen Hebel, der die Steuerung über die Lehne ein- und ausschaltet. Der Rollstuhl l?sst sich dann wie gewohnt über die grossen Antriebsr?der lenken.
Von Skateboard inspiriert
Auf die Idee für die Lehnenlenkung kam Togni 2017 w?hrend seines Masterstudiums in Innovation Design Engineering. ?Ich sprach mit einigen Menschen mit Behinderungen über ihre Hilfsmittel und h?rte den Wunsch nach besser funktionierenden, analogen Ger?ten?, sagt Togni. Eine Frau habe beispielsweise erw?hnt, wie sch?n es w?re, wenn sie als Rollstuhlfahrerin zurücklehnen und die Fahrt geniessen k?nnte. Jemand anderer habe erz?hlt, wie frustrierend es sei, von einem Skateboarder überholt zu werden. ?Die Steuerung durch Gewichtsverlagerung müsste auch bei einem Rollstuhl m?glich sein?, dachte sich Togni und begann zu tüfteln.
?Es gibt immer noch Momente, in denen es uns fast weghaut, wie einfach unsere Idee ist – und wie viele Vorteile sie bietet.?Reto Togni, Mitarbeiter im Labor für Bewegungsbiomechanik
Seinen ersten Prototyp baute er 2017 w?hrend seines Masterstudiums in London. W?hrend seines anschliessenden Doktorats im Labor für Bewegungsbiomechanik an der ETH Zürich entwickelte Togni seine Technologie weiter und legte in Laborstudien dar, wie sich seine Lenkung aus biomechanischer Sicht verh?lt und für wen sie geeignet ist.
Stefan Villiger studierte an der ETH Zürich Maschinenbau. Vom Rollstuhl-Projekt erfuhr er bei einer internen Pr?sentation. ?Ich war fasziniert von der einfachen und doch sehr eleganten L?sung?, sagt Villiger. Für seine Masterarbeit meldete er sich bei Togni. Zusammen haben sie inzwischen mehrere Prototypen entwickelt.
Unterstützt durch ein ETH Pioneer Fellowship haben die beiden ETH-Mitarbeiter nun Zeit, ihre Technologie zu optimieren und auf den Markt zu bringen. Dazu werden sie demn?chst das Start-up Versive gründen.
Warum erst jetzt?
Bis jetzt haben mehr als 50 Rollstuhlfahrer:innen die Steuerung per Rückenlehne getestet, und viele sind davon überzeugt. ?Das ist die gr?sste Verbesserung für Rollstuhlfahrer seit der Erfindung des Rades, meldete eine der Testpersonen zurück?, sagt Togni. Die Paraplegikerin Ursula Memmishofer, externe Seite in diesem Video vor ein paar Jahren als Probandin zu sehen, ist seit einem halben Jahr mit einem Versive-Rollstuhl unterwegs– und m?chte ihn nicht mehr hergeben.
Egal ob Auto, Schiff oder Gokart: Fast jedes Fortbewegungsmittel hat ein Steuerrad, betont Togni. ?Wenn man den Rollstuhl auch als Fortbewegungsmittel denkt, dann ist es logisch, dass auch der Rollstuhl eines hat.?
Warum ist vor den beiden noch niemand auf die Idee gekommen, die Rückenlehne zum Steuern zu nutzen? ?Das fragen wir uns auch?, sagt Togni. Dass die Rollstühle sich kaum weiterentwickeln, sei wohl darauf zurückzuführen, dass sich der Rollstuhl zu wenig von seinem ursprünglichen Zweck gel?st habe, mutmasst Togni. ?Der Rollstuhl dient seit jeher dem Heim- und Pflegepersonal als Transportger?t für kranke und behinderte Menschen und wurde bisher zu wenig aus Nutzer:innen-Sicht betrachtet.?
Einfache Idee, schwierige Implementierung
Die Lenktechnologie ist weit fortgeschritten und funktioniert – und das Patent gesichert. Die Herausforderung ist nun, ganze Rollstühle herzustellen und zu vertreiben.
Das liegt weniger an den Bestandteilen, denn bei diesen handle es sich ?um einfache, günstige Teile, die man zum Beispiel auch für Velos braucht?. Die Herausforderung ist die Anpassung an einzelne Nutzende. ?Wenn die IV einen Rollstuhl finanzieren soll, muss man sicherstellen, dass er sich dem oder der Nutzenden hochgradig individuell anpassen l?sst?, erg?nzt Togni: ?Ein Mittelklasse-Rollstuhl l?sst sich auf Hunderttausende verschiedene Arten zusammenstellen. Deshalb ist allein der Ersatzteilkatalog eines Rollstuhlherstellers über 100 Seiten dick.? Und Villiger fügt an: ?Wir müssen herausfinden, wie wir die Anpassung der Rollstühle m?glichst effizient und dennoch ?usserst individuell machen k?nnen.?
Bevor sie ihr Produkt auf den Markt bringen k?nnen, müssen sie mit Versicherungen wie der IV oder Suva grundlegende Fragen kl?ren. ?Zurzeit k?nnen wir nur Rollstühle für Selbstzahler:innen herstellen?, sagt Togni.
Die beiden ETH-Mitarbeitenden hatten sich auch überlegt, ihre Rückenlehne-Technologie als Zubeh?r für andere Hersteller anzubieten. Doch das war zu kompliziert. ?Für die Einführung eines neuen Zubeh?rteils braucht es für jeden einzelnen Rollstuhlhersteller eine eigene Kompatibilit?tsbescheinigung?, sagt Togni.
?Verkauft es als Spielzeug?
Bis Mitte 2027 m?chten Togni und Villiger mit ihren Rollstühlen auf dem Schweizer Markt sein und von den Versicherungen anerkannt sein.
Zurzeit sind sie daran, sich Geld zu beschaffen, um ihre Technologie auf den Markt zu bringen. In einem n?chsten Schritt m?chten sie ihr Team vergr?ssern. L?ngerfristig sucht das Start-up Zugang zu Kliniken und eine Person, die die Rollstühle individuell an die Nutzenden anpassen kann und die sich mit Regulatorien, Tests und Rückerstatten auskennt.
Von der Skepsis, die den beiden aus der Branche entgegenschwappt, lassen sie sich nicht entmutigen. Togni: ?Wir haben Zahlen, die belegen, dass unsere L?sung um ein Vielfaches effizienter ist. Und wir haben genug Testpersonen, die sagen, dass sie die Steuerung per Rückenlehne bevorzugen.?
Ein Proband riet ihnen gar: ?Falls die IV nicht zahlt, verkauft es einfach als Spielzeug. Euer Gef?hrt macht definitiv Spass.?
Reto Togni und Stefan Villiger geben anl?sslich des ETH Industry Day @ Open-i am 21. November 2024 im Zürcher Kongresshaus am Stand von ETH Entrepreneurship Einblick in ihre Forschung.
Erleben Sie den CYBATHLON 2024
Vom 25. bis 27. Oktober 2024 findet in der SWISS Arena in Kloten zum dritten Mal dieser einzigartige, von der ETH initiierte Wettkampf statt: Menschen mit Behinderungen messen sich beim Absolvieren alltagsrelevanter Aufgaben mittels modernster technischer Assistenzsysteme. Freuen Sie sich auf spannende Wettk?mpfe in acht verschiedenen Disziplinen mit Teams aus der ganzen Welt und ein interaktives Rahmenprogramm. Kaufen Sie Ihre Tickets externe Seite online oder an der Kasse vor Ort oder schauen Sie ab 25.10. per Livestream auf der Cybathlon-Webseite zu.