Hirn an Fuss, bitte kommen!

Bei Verletzungen des Rückenmarks werden die Nervenbahnen zwischen Hirn und den Gliedmassen ganz oder teilweise unterbrochen. Das hat für die Repr?sentation der betroffenen Gliedmasse im Gehirn teils drastische Konsequenzen. ETH-Forscher haben nun gemessen, wie sehr die korrekte Repr?sentation eingeschr?nkt ist.

Vergr?sserte Ansicht: querschnittlähmung
Eine vollst?ndige Querschnittl?hmung ver?ndert die Hirnrepr?sentation des K?rperteils, das keinen Nervenkontakt mehr zum Rückenmark hat. (Bild: colourbox.com)

Wer schon einmal lokal bet?ubt wurde und zusehen durfte, wie an seinem Bein oder Arm operiert wurde, kennt diese seltsame Wahrnehmung. Der eigene K?rperteil kommt einem in diesem Moment fremd vor, als geh?re er nicht zum eigenen K?rper. Dies liegt unter anderem daran, dass das Gehirn noch immer die Position gespeichert hat, welche die Gliedmasse vor der ?rtlichen Bet?ubung innehatte. Sobald die Wirkung der An?sthesie abklingt, ist der Spuk vorbei.

Bleibendes Gefühl der Entfremdung

Bei Menschen, die eine Verletzung des Rückenmarks oder einen Schlaganfall erlitten haben, geht diese ?Entfremdung? der eigenen Gliedmassen jedoch nicht vorüber. Denn eine solche Verletzung beeintr?chtigt oder unterbricht die Kommunikation zwischen Gehirn und K?rper. Dies beeinflusst die anatomische Rekonstruktion des K?rpers im Gehirn, die sogenannte K?rperrepr?sentation.

Denn Hirn und Gliedmassen wie Arme, Beine, Füsse oder H?nde tauschen st?ndig Daten über Lage, Orientierung und Zustand aus, sogenannte somatosensorische Informationen. Auch das Auge ist an der K?rperwahrnehmung beteiligt. Das Gehirn seinerseits verarbeitet diese visuellen und somatosensorischen Informationen zu einem Bild des K?rpers, das in der Grosshirnrinde ?abgelegt? wird. Unter Experten und ?rzten ist bis heute allerdings umstritten, ob und wie stark die Sch?digung des Rückenmarks die K?rperrepr?sentation ver?ndert. Die Studien, die dazu durchgeführt wurden, sind widersprüchlich.

Nun haben Forscherinnen und Forscher verschiedener Institutionen unter Co-Leitung von ETH-Professor Roger Gassert vom Labor für Rehabilitationstechnik mit einer neuen Studie mehr Licht in die Sache gebracht. Diese wurde soeben in der Fachzeitschrift ?Scientific Reports? ver?ffentlicht.

K?rperbilder im Kopf einordnen

Im Rahmen dieser Studie untersuchten die Forschenden mithilfe eines etablierten Tests, ob und wie sehr die K?rperrepr?sentation bei Querschnittgel?hmten von derjenigen bei Gesunden abweicht.

Vergr?sserte Ansicht: Handbild
Linke Hand, 90 Grad nach rechts gedreht. (Bild: www.colourbox.com)

Dazu erarbeitete Erstautor Silvio Ionta w?hrend seines Forschungsaufenthaltes an der ETH Zürich eine Aufgabe, bei der die Probanden Bilder von fremden K?rperteilen wie Fuss und Hand sowie Ganzk?rperfotos gezeigt erhielten. Die Probanden konnten ihre eigenen H?nde und Füsse w?hrend der Bildpr?sentation nicht sehen, hielten diese aber entweder parallel zueinander oder gekreuzt.

Die Probanden – darunter je elf mit kompletter oder mit teilweiser Durchtrennung des Rückenmarks sowie 16 Kontrollprobanden mit intaktem Rückenmark – mussten anhand der pr?sentierten Bilder die K?rperseite der gezeigten K?rperteile respektive des K?rpers bestimmen. Die Bilder wurden überdies in verschiedenen Orientierungen gezeigt. Die Forschenden massen schliesslich die Reaktionszeit zwischen Bildpr?sentation und verbaler Antwort. ?Mit diesem Test k?nnen wir indirekt auf objektive Weise abfragen, ob und wie Hirn und Gliedmassen miteinander kommunizieren?, sagt Gassert.

Zustand des Rückenmarks entscheidend

Am schwierigsten war die Aufgabe für Probanden mit vollst?ndiger Rückenmarksdurchtrennung. Für die Beurteilung der Lage und Orientierung des gesamten K?rpers brauchten sie deutlich l?nger – bis zu 50 % mehr Reaktionszeit –als Probanden mit unversehrtem Rückenmark. ?Je st?rker das Rückenmark zerst?rt ist, desto gr?sser ist die Reaktionszeit für die Beurteilung von Bildern des K?rpers, desto st?rker ist auch die Ganzk?rper-Repr?sentation im Gehirn ver?ndert?, sagt der ETH-Professor.

Das Gehirn nehme w?hrend dem Betrachten der Bilder unbewusst die eigene aktuelle K?rperlage wahr und diese beeinflusse die Beurteilung des Bildes. Sei das Rückenmark komplett durchtrennt, erhalte das Gehirn nur noch visuelle Reize. ?Die K?rperrepr?sentation ist somit gest?rt, und es f?llt den Betroffenen schwerer, die gestellte Aufgabe zu l?sen.?

Mit den Tests konnten die Forschenden aber auch eine Einsch?tzung darüber gewinnen, wie stark die teilweise oder komplette Querschnittl?hmung die Repr?sentation der gezeigten K?rperteile beeinflusst. So war bei allen Probanden die Handrepr?sentation unver?ndert. Hielten die Probanden w?hrend den Tests ihre eigenen H?nde gekreuzt, stieg die Reaktionszeit bei allen drei Gruppen vergleichbar an.

Die Haltung der Füsse jedoch beeinflusste die Reaktionszeit merklich. Dabei zeigten Probanden mit kompletter Querschnittl?hmung eine geringere Reaktionszeit, bis sie ihre Antwort formulieren konnten, als Probanden mit teilweiser L?hmung und gesunde Kontrollprobanden. Dies deutet darauf hin, dass das Gehirn von Menschen mit kompletter Durchtrennung des Rückenmarks den Fuss anders repr?sentiert als Menschen, deren Gehirn noch Informationen aus den unteren Extremit?ten empf?ngt.

Dass Probanden mit teilweiser oder kompletter L?hmung die Aufgaben ebenso genau und richtig wie gesunde Probanden l?sen k?nnen, heisst für Gassert auch, dass die Repr?sentation im Gehirn dynamisch und anpassungsf?hig ist.

Exoskelette oder Prothesen mit Gedanken steuern

Die Studie hat laut Gassert auch Auswirkungen auf Rehabilitation und Therapie von Menschen mit Querschnittl?hmungen. ?Dieser Test kann in der Klinik dabei helfen, den Grad der Ver?nderung der K?rperrepr?sentation im Gehirn objektiv zu erfassen?, sagt der ETH-Professor.

Er kann sich aber auch vorstellen, dass die mit diesem Testverfahren gewonnenen Erkenntnisse dabei helfen, die Netzwerke im Gehirn, die für die K?rperrepr?sentation zust?ndig sind, zu stimulieren und so aktiv zu erhalten, dies auch im Hinblick auf m?gliche Mensch-Maschinen-Schnittstellen. Diese k?nnten in Zukunft wichtig werden, um das Gehen mit Exoskeletten oder Prothesen zu erm?glichen.

?Dieser Ansatz k?nnte dabei helfen, die K?rperrepr?sentation auch nach einer Rückenmarksverletzung ?wach? zu halten. In einem zweiten Schritt k?nnte dies dazu dienen, mentale Befehle standardisiert zu erzeugen und damit ein Exoskelett mit einer Gehirn-Computer-Schnittstelle zu bewegen?, sagt Gassert.

Der Test wurde entwickelt von Roger Gasserts ehemaligen Mitarbeiter Silvio Ionta, der mittlerweile an der Universit?t Lausanne arbeitet. Mitgeleitet wurde Gasserts Studie von Armin Curt vom Zentrum für Paraplegie der Universit?tsklinik Balgrist.

Brain Fair

Morgen Samstag geht die diesj?hrige Ausgabe der externe Seite Brain Fair des Zentrums für Neurowissenschaften Zürich mit einem reich befrachteten Vortragsprogramm zu Ende. Verschiedene Forscherinnen und Forscher der Universit?t Zürich und der ETH Zürich referieren darüber, wie Bewegung auf das Gehirn wirkt - und umgekehrt. Unter den Referenten ist auch ETH-Professor Roger Gassert. Er stellt zusammen mit Michelle Starkey (Neurowissenschaftlerin, Universit?tsklinik Balgrist), Armin Curt (Neurologe, Universit?tsklinik Balgrist) und William Taylor (Ingenieur, ETH) das Projekt ?ZurichMove - Bewegungssensoren, die Sie bewegen? vor. Die weiteren Beitr?ge sehen Sie externe Seite hier.

?Brain Fair Zürich 2016: Bewegung?. Samstag, 19. M?rz 2016; Kurzvortr?ge von 11.00-15.20 Uhr, Auditorium Maximum ETH-Hauptgeb?ude, R?mistr. 101.

Cybathlon

Gel?hmten das Gehen wieder zu erm?glichen, ist ein Menschheitstraum. Auch wenn dieser Traum noch nicht g?nzlich in Erfüllung gegangen ist, gibt es mittlerweile zahlreiche Assistenztechnologien, die den Alltag von Menschen mit k?rperlichen Behinderungen erleichtern. Einen aktuellen ?berblick über solche Technologien erm?glicht der Cybathlon. Dabei treten Menschen mit k?rperlichen Einschr?nkungen mithilfe modernster Assistenztechnologien gegeneinander an. Dabei wird getestet, wie gut es den Teilnehmern gelingt, allt?gliche Aufgaben mithilfe motorisierter Beinprothesen, tragbarer Armprothesen, aktuierter Stützapparate (Exoskelette), motorisierter Rollstühle, elektrischer Muskelstimulation und neuartiger Hirn-Computer-Schnittstellen auszuführen. Bei diesen technischen Hilfsmitteln handelt es sich teils um marktg?ngige Produkte und teils um Prototypen aus Forschungslabors aus aller Welt.

Cybathlon, 8. Oktober 2016, Eishockeystadion Swiss Arena in Kloten

Literaturhinweis

Ionta S, Villiger M, Jutzeler CR, Freund P, Curt A, Gassert R. Spinal cord injury affects the interplay between visual and sensorimotor representations of the body. Scientific Reports 6, Article number: 20144 (2016) DOI:externe Seite 10.1038/srep20144

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